IWC, 26. November 2015, Köln

IWC, 26. November 2015, Köln

Kompressionstherapie - Hürden überwinden und Ziele erreichen

Prof. Dr. med. Joachim Dissemond, Kerstin Protz, Prof. Dr. med. Knut Kröger

Der Interdisziplinäre Wundcongress (IWC) in  Köln ist eines der wichtigsten Expertentreffen zum Thema Wundversorgung in Deutschland. Anlässlich des 8. IWC informierte eine Expertengruppe des Starnberger Medical Data Institute (MDI) am 26. November 2015 über den Stand, den Stellenwert und die Möglichkeiten der Kompressionstherapie und ihre Bedeutung bei der Versorgung von venösen Beingeschwüren.

 

Trotz ihrer langen Geschichte sei die Kompressionstherapie heutzutage fast als vergessene Kunst anzusehen, eröffnete Prof. Dr. Joachim Dissemond von der Universitätsklinik Essen den zahlreichen Besuchern des sehr gut besuchten Symposiums. Der Ressortleiter der Expertengruppe zur Kompressionstherapie des MDI illustrierte die lange Historie der Kompressionstherapie der Unterschenkel, die sogar auf steinzeitlichen Darstellungen nachweisbar sei und deren Prinzipien bereits von den Ärzten der Antike angewendet und beschrieben wurden. An der Definition des römischen Wundarztes Galen, dass ein Verband gut sitzen, schmerzfrei und schnell anzulegen sein soll, orientieren sich auch die modernen Kompressionsverbände. Nachdem Galens Erkenntnis  im Verlauf des Mittelalters verloren gegangen war, knüpfte Gustav Pütter in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts bei der Kompressionstherapie wieder daran an: „Deutschland ist Pütterland“, konstatierte Prof. Dissemond. Der Begriff Pütterverband - die Gegenwickeltechnik - werde heutzutage in der  Kompressionstherapie für viele Kompressionsbandagierungen verwendet, die im Rahmen der leitliniengerechten komplexen Enstauungstherapie (KPE) bei der Behandlung des Ulcus cruris venosum oder des Lymphödems zum Einsatz kommen. Weiterhin ist die Kompressionstherapie für die Ödemreduktion bei der Vaskulitis, der Livedovaskulopathie, der Necrobiosis lipoidica und dem Klinefelter Syndrom indiziert. Das Ödem, so der Dermatologe, sei der größte Feind der Therapie. Da eine Ulcus-Abheilung bei bestehendem Ödem kaum erfolgreich sei, ist seine Reduktion daher Voraussetzung für das Gelingen der Therapie. Allerdings ist die Kompressionstherapie bei dekompensierter Herzinsuffizienz, Phlegmasia coerulea dolens und  dekompensierter peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK), ab Fontaine Stadium 2b, ganz klar kontraindiziert. Ein als unbequem und fremd empfundener Kompressionsverband schränkt die Lebensqualität des Patienten ein. Die daraus resultierende geringe Akzeptanz des Betroffenen gegenüber dieser Versorgung kann ein Therapiehindernis darstellen. Allerdings stehen heutzutage, so betonte Prof. Dissemond, ausreichend verschiedene Materialien und Methoden zur Verfügung, so dass es möglich ist, eine auf die Bedürfnisse des Betroffenen zugeschnittene Therapieform auszuwählen. Eine neuartige Klett-Bandage, der Circaid JuxtaCures (Firma medi), ermöglicht es beispielsweise dem Patienten, den Kompressionsdruck selbst zu adjustieren. Die Therapie kann so mit einem Druck in einem geringen, gut tolerierten Bereich beginnen und dann selbständig gesteigert werden. Denn alle Patienten mit Ödemen und chronischen Wunden, so unterstrich der Vortragende abschließend, profitieren von der Kompressionstherapie.  

Der Frage nach der „Evidenzfalle Kompressionstherapie“ ging Prof. Dr. Knut Kröger, ebenfalls Ressortleiter der Expertengruppe zur Kompressionstherapie des MDI, im Anschluss nach. Die evidenzbasierte Medizin (EBM) ist die Heilkunde, die sich auf Beweismaterial stützt und eine  moderne Richtung, welche die Studienlage als Beweis (engl.: evidence) für die Richtigkeit einer Therapieentscheidung ansieht. Seit 2000 hat der Begriff mit den „evidenzbasierten Leitlinien“ Einzug in das Sozialgesetzbuch (SGB) gehalten. Die Aussagekraft großer Studien habe, so der Krefelder Angiologe, in der EBM hohen Stellenwert, wobei man bewusst in Kauf nehme, dass eine durch Studienlage gesicherte Therapieform nicht für jeden Patienten passend ist, und sogar schädigen kann. Der Durchschnittspatient einer Studie bilde umso weniger  den speziellen Patienten ab, je größer die jeweilige Studie angelegt sei – dennoch ist durch die Studienlage in der EBM eine bestimmte Therapieform anempfohlen. Der Therapeut, dessen Erfahrung und individuelle Therapieentscheidung in der Folge weniger Berücksichtigung fänden, befindet sich somit in der Evidenzfalle, so Prof. Kröger. Dahingehend habe der damalige  Präsident der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF),  Prof. Wichert, bereits 2005 eine „Entideologisierung“ der EBM angeregt. Bei der Tumorbehandlung, so berichtete Prof. Kröger, ginge man heutzutage bereits zurück in die individualisierte Therapie. Der Angiologe bezweifelt zudem, dass der EBM in zehn Jahren noch der Stellenwert zukommt, den sie heute hat. In der Kompressionstherapie sei die eigene Erfahrung der Versorger wesentliche Grundlage der Therapie, so illustrierte er anhand anschaulicher Abbildungen schlecht angelegter Kompressionsverbände. Der Stellenwert des sogenannten Expertenkonsens, der oft in Leitlinien Erwähnung findet, sollte insbesondere in der Kompressionstherapie stärker hervorgehoben werden. Bei therapeutischen Fragen, zu denen es noch an aussagekräftigen Studien fehlt komme, nach Aussage Prof. Krögers, dem Expertenkonsens eine hohen Bedeutung zu.

Mit der Vorstellung zweier aktueller Studien knüpfte die Gesundheits- und Krankenpflegerin Kerstin Protz vom Vorstand des Wundzentrum Hamburg e.V. thematisch an. In ihrem sehr lebendigen Vortrag stellte sie zunächst eine deutschlandweit durchgeführte Studie vor, in der im Jahr 2013 Defizite hinsichtlich der Kompressionstherapie auf Seiten der Versorger ermittelt werden konnten. Von den 891 Teilnehmern, darunter Pflegefachkräfte, medizinische Fachangestellte und Ärzte, war das Prinzip der Unterpolsterung eines Kompressionsverbands nur 12% bekannt. Die Mehrkomponenten- und Ulcus-Strumpfssysteme, die bereits seit 15 Jahren in Deutschland etabliert sind, kannten 85% der Teilnehmer nicht. Ein Praxistest, dessen 551 Teilnehmer dazu aufgefordert wurden, einen bestimmten Zieldruckwert mit einer Kompressionsbandagierung zu erreichen, ergab, dass nur 9,2% der Versorger einen therapierelevanten Druck mit einer Bandagierung erzeugen.
Grundsätzlich soll eine  Kompressionsbandagierung, so die Hamburger Fachautorin, nach spätestens vier Wochen zu einer Entstauung führen, dann ist die Versorgung auf Ulcus-Strumpfsysteme umzustellen. Eine adäquate Unterpolsterung, die Schmerzen durch Schnürfurchen und weiteren Schädigungen vorbeugt, sollte dabei immer Bestandteil sein. Auf Patientenseite führen aber nicht nur Schmerzen und Einschränkungen der Lebensqualität, sondern oft auch einfach nur Unverständnis zur Ablehnung der Therapie. Daher forderte Kerstin Protz dazu auf, Betroffene und ihre Angehörigen über die Kompressionstherapie  aufzuklären. Anhand einer Studie zum Wissenszuwachs auf Patientenseite durch eine Kompressionsbroschüre des Hamburger Wundzentrum e.V. verdeutlichte sie den subjektiven Wissenzuwachs, den Patienten durch adäquate Informationsmaterialien erhalten. Abschließend stellte die Projektmanagerin für Wundforschung im Comprehensive Wound Center des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf einige Daten einer weiteren, noch nicht publizierten Studie vor, die Defizite in der Versorgungspraxis aufzeigen. Kerstin Protz mahnte in diesem Zusammenhang den oft unsachgemäßen Umgang der Patienten mit ihren verordneten Materialien an. Möglichkeiten der Edukation und Schulungen, sowohl der Betroffenen und deren Angehöriger, als auch des medizinischen und pflegerischen Personals sieht die Fachautorin als dringend geboten an.  

An die Beiträge der drei vortragenden Experten des MDI schloss sich eine lebhafte Diskussion mit den Zuhörern an, in deren Verlauf durch Frau Protz, Prof. Dissemond und Prof. Kröger noch auf viele ergänzende Fragen eingegangen werden konnte. Das Symposium des Medical Data Institute auf dem 8. Interdisziplinären Wundcongress bewies das Interesse der Versorger an der Kompressionstherapie und unterstrich gleichzeitig ihren Stellenwert in der Wundversorgung. Es wurde deutlich, dass eine Weiterbildung und Professionalisierung der Versorger, in Verbindung mit der Aufklärung der Betroffenen und der Einbeziehung der Patienten bei der Suche nach einer für sie geeigneten Therapieform den Schlüssel des Behandlungserfolges darstellt.    

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